Allein in der Masse. Fotos: Stefen Chow.

Drei Monate lang war Deutschlands bekanntester Couchsurfer in China unterwegs. Daraus ist nun ein lesenswerter Reisebericht entstanden. Der Sinograph unterhält sich mit Stephan Orth über sein jüngstes Buch „Couchsurfing in China“ und über das Reisen in China.

Sinograph: Nach dem Iran und Russland sind Sie durch China gesurft. Worin unterscheidet sich das Reisen in diesen Ländern?

Stephan Orth: Die Stimmung in den drei Ländern ist fundamental verschieden, und jedes Mal habe ich andere Erkenntnisse mitgenommen. Im Iran habe ich gelernt, dass man dem Menschen nie komplett ihre Freiheiten wegnehmen kann, sie finden im Geheimen einen Weg. In Russland habe ich gelernt, im Moment zu leben. Und in China fiel mir auf: Die Leute sehnen sich weniger als Europäer danach, dass im Grunde alles so bleibt, wie es gerade ist, und haben den ständigen Wandel als einen Naturzustand akzeptiert, dem man sich immer wieder anpassen muss. Möglicherweise sind sie mit dieser Einstellung besser für die nächsten Jahrzehnte gerüstet als wir.

Sie reisen bevorzugt in Länder, die in unserer medialen Berichterstattung schlecht wegkommen. Worin liegt der Reiz?

Ich habe dort das Gefühl, mit meinen Berichten aus dem Alltag die Leser noch überraschen zu können. Oft zeigt sich vor Ort, dass vieles komplexer ist, als Vorurteile vermuten lassen, und dass manche «skurrile» Eigenart durchaus ihre kulturellen oder geschichtlichen Gründe hat. Ich will auf keinen Fall Missstände beschönigen, meine Bücher sind oft sehr politisch – aber ich versuche, die Dinge realistisch darzustellen, indem ich nicht nur die Extreme, sondern auch das Normale zeige.

Was sagen Sie jemandem, der wegen der katastrophalen Menschenrechtslange in Tibet und vor allem Xinjiang ein Reiseboykott fordert?

Das halte ich nicht für den richtigen Weg. Das bisschen Touristengeld ändert nicht viel, und die chinesische Staatsführung käme durch solche Aktionen niemals auf die Idee, ihren Kurs zu ändern. Wer etwas bewirken möchte, sollte lieber nach Xinjiang fahren und davon berichten, wie das dortige System der totalen Überwachung aussieht. Das Thema ist in unseren Medien immer noch unterrepräsentiert.

Auf Schritt und Tritt verfolgt: Überwachungskameras in China.

 

Sie waren auch in Westchina unterwegs. Was haben Sie von der Situation mitbekommen?

Im Zentrum von Ürümqi, der Hauptstadt der Xinjiang-Provinz, gilt die Regel, dass alle 100 Meter eine Polizeistation stehen muss. Man kann sich nirgends um 360 Grad drehen, ohne Polizisten zu sehen. Vor jedem Supermarkt stehen Metallschleusen mit Ausweiskontrollen. Die Uiguren vor Ort werden rund um die Uhr überwacht, digital und per Sicherheitskameras mit Gesichtserkennung – es ist sogar reglementiert, wie viele Küchenmesser man besitzen darf. Wer als gläubiger Muslim auffällt, gerät damit automatisch in Terrorismusverdacht und wird für Monate ins Umerziehungslager geschickt. Die Menschen haben unglaubliche Angst vor der Staatsgewalt.

Ihr Buch beginnt mit dem Besuch eines Zukunft-Themenparks in Guizhou. Was können wir von den chinesischen Zukunftsutopien für unsere Gesellschaft lernen?

Europa muss darauf achten, im Hightechbereich nicht den Anschluss zu verlieren und schneller auf neue Entwicklungen reagieren – ohne seine ethischen Maßstäbe aufzugeben. Viele Menschen bei uns realisieren noch gar nicht, welche Weichenstellungen andernorts schon passieren: Letztes Jahr hat China kurzerhand «Künstliche Intelligenz» als Schulfach eingeführt, und der Ausbau des 5G-Netzes ist nirgendwo so weit fortgeschritten wie dort. Und chinesische Firmen sind Weltmarktführer bei Themen wie Überwachungs- und Drohnentechnik. Da kommt noch einiges auf uns zu.

China gilt als schwieriges Reiseland. Was sind die grössten Herausforderungen?

Natürlich zunächst die Sprachbarriere. In ländlichen Regionen finden Sie kaum jemanden, der gut Englisch spricht. Übersetzungs-Apps, die auch gesprochene Worte oder fotografierte Schriftzeichen übersetzen können, helfen da enorm. Aber natürlich sind da auch kulturelle Barrieren, und es ist manchmal gar nicht so einfach, mit den Menschen in einen engeren persönlichen Kontakt zu kommen.

Im Vergleich zur Einwohnerzahl gibt es in China relativ wenige Couchsurfing-Gastgeber.

 

Und beim Couchsurfen? Lassen sich Gastgeber vergleichsweise gut finden?

Das ist immer eine ganz wunderbare Möglichkeit, um ein Land aus der Nähe kennenzulernen. In China allerdings war es schwerer als anderswo, Gastgeber zu finden. Im Vergleich zur Einwohnerzahl gibt es nicht besonders viele Mitglieder, und viele junge Menschen leben bis zur Hochzeit bei den Eltern oder in winzigen Uni-Wohnheimzimmern, die nicht für Übernachtungsgäste geeignet sind. Deshalb passt Couchsurfing nicht so gut ins Leben der 20-35-Jährigen wie bei uns.

Was hat Sie an China am meisten überrascht?

Immer wieder: Wie schnell das Entwicklungstempo ist. Ich war viermal dort in einem Zeitraum von zehn Jahren, jedes Mal kam es mir vor wie ein anderes Land. Was dort passiert, kann man aus der Ferne kaum begreifen – man muss es vor Ort erlebt haben. Oder besser: immer wieder vor Ort erleben. Selbst China-Experten sind schnell nicht mehr auf dem neuesten Stand, wenn sie mal zwei Jahre nicht dort waren.

Gab es schon Reaktionen aus China auf das Buch? Werden Sie wieder nach China reisen?

Zwei Chinesen, die schon länger in Deutschland leben, gratulierten mir per E-Mail, wie gut ich ihr Land getroffen habe. Eine Buchagentin in Taiwan, die für meinen Verlag nach Übersetzungs-Angeboten sucht, schrieb allerdings: In China lässt sich das auf keinen Fall veröffentlichen, das würde Verlag und Autor in Gefahr bringen. Hinreisen werde ich erstmal nicht mehr – in dem Buch spreche ich einige brisante politische Themen an, vermutlich würde ich kein Visum mehr bekommen.

Im Frühling und Herbst stellt Stephan Orth sein Buch in zahlreichen Lesungen vor. Die Daten findet ihr hier: stephan-orth.de


Durch die Wohnzimmer der neuen Supermacht

Das Spannendste an einem Reiseziel sind die Menschen – und nirgendwo kann man sie besser kennenlernen als bei sich zu hause. Mit dieser Prämisse reiste der Bestsellerautor Stephan Orth durch das Reich der Mitte und erzählt von seinen teilweise lustigen, teilweise bizarren Begegnungen. Dabei gelingt es ihm ein kritisches, aber respektvolle Bild jenes Lands zu zeigen, das unsere Zukunft wohl mehr prägen wird als jedes andere.

Stephan Ort: Couchsurfing in China, Piper Verlaf 2019, 250 Seiten, 16 Euro. Bei Amazon bestellen.

 

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3 Kommentare

  1. „Couchsurfing in Russland“ fand ich sehr gut, „Couchsurfing im Iran“ dagegen eher oberflächlich.
    Jetzt bin ich gespannt auf das Buch über China!

  2. Hey Olli, Hey Stephan,
    sehr spannendes Interview. Ich finde das recht interessant, dass es durch die politische Situation nur recht wenige Couchsurfing Hosts gibt. Ich habe zwar kein Couchsurfing in China gemacht, aber bereits im Iran und dort ist die Situation was das angeht ja vergleichbar. Dort musste ich bei einem Gastgeber mehrfach warten, bis niemand mehr im Treppenhaus ist und mir wurde mehrfach gesagt, dass ich immer ein Hotel als offizielle Unterkunft angeben soll. Wie lief das denn mit der offiziellen Meldung bei der Polizei ab? Das muss man je theoretisch täglich machen, wenn man nicht in einem Hotel schläft.

    Viele Grüße,
    Julian

    1. Hi Julian,
      theoretisch müsste man sich innerhalb von 24 Stunden bei der Polizei melden. Aber das kannst du getrost vergessen. Die Strafe fürs Nichtmelden liegt bei 500 Yuan. Das kann man also problemlos riskieren, zumal es ja auch keine Situation gibt, in der das überprüft wird. Da müsste tatsächlich eine Kampagne losgetreten werden. Das könnte passieren, wenn zum Beispiel ein Unglück oder Verbrechen passiert, in das ein nicht angemeldeter Ausländer involviert ist und China zeigen will, dass es etwas macht.
      Gruss,
      Oli

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