Es ist eine alte Weisheit: Je mehr du über die Hintergründe deines Reiseziels weisst, desto interessanter wird dein Trip. Ich habe in den vergangenen Monaten viel gelesen und möchte dir heute drei spannende Sachbücher zu China vorstellen, die sich meiner Meinung nach lohnen.
Du bist vermutlich auf diesem Artikel gelandet, weil du dich für Bücher über China interessierst und möglicherweise eine Reise durch das Land der Mitte unternehmen willst. Vielleicht folgst du Sinograph auch schon länger und weisst, dass ich hier immer wieder Lesetipps gebe.
Wenn du auf der Suche nach dem besten Reiseführer für China bist, dann empfehle ich dir meine Buchtipps für die Vorbereitung eines Trips durch China. Im Beitrag vergleiche ich die gängigen Reiseführer und helfe dir dabei, das Buch zu finden, das am besten zu deiner Reiseart passt.
Wenn du kein Chinesisch sprichst und dich vor der Sprachbarriere fürchtest, solltest du dir ausserdem meine Empfehlungen zur Kommunikation ohne Worte anschauen. Dort findest du eine Liste mit Hilfsmitteln, die dir unterwegs die Verständigung erleichtern.
Um beides soll es heute jedoch nicht gehen. In diesem Artikel möchte ich vielmehr ein paar kürzlich erschienene Sachbücher zu China vorstellen, die dir dabei helfen, die gesellschaftlichen Entwicklungen im Reich der Mitte besser einordnen zu können.
Von der erstarkten Zensur sind übrigens auch Bücher im Reisegepäck betroffen. Um zu vermeiden, dass dir ein eifriger Grenzbeamter die Lektüre abnimmt, empfehle ich dir, westliche Bücher über China nach Möglichkeit vor oder nach der Reise zu lesen.
Tipp 1.) Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur
Lange war die vorherrschende Meinung, dass die Wünsche und Bedürfnisse Chinas wachsender Mittelschicht zu einer Demokratisierung des Landes führen würden. Seit Amtsantritt von Präsident Xi vor bald sechs Jahren wissen wir, dass das Wunschdenken war.
China schränkt die Bürgerrechte in Riesenschritten immer weiter ein, schottet das Land zunehmend von ausländischen Einflüssen ab und hat mit Hilfe von künstlicher Intelligenz ein System der Massenüberwachung geschaffen, das sich in diesem Ausmass in keinem anderen Land der Welt finden lässt.
Strittmatter schildert nicht nur, wie die Behörden mit Hilfe der Millionen von Kameras jeden zur Suche ausgeschriebenen Bürger innerhalb von Sekunden auffinden können, sondern zeigt auch, was diese Technik sonst alles leisten kann. Schon bald soll etwa eine Identifizierung auf Grund der Gangart möglich sein.
Kritische Worte gibt es auch zum neuen Social Credit System, das bald jeden chinesischen Bürger nach seiner Vertrauenswürdigkeit bewerten soll. Punkteabzug bekommen etwa säumige Schuldner, aber auch Personen, die bei Rot über die Strasse gehen oder die Unabhängigkeit Taiwans befürworten. Wer einen gewissen Punktestand erreicht hat, darf nicht mehr fliegen oder ins Ausland reisen.
Das Faszinierende an der „Neuerfindung der Diktatur“ ist, dass Strittmatter mit chirurgischer Präzision nachzeichnet, wie wenig es braucht, dass Menschen freiwillig ihre Privatsphäre und Freiheit für vermeintliche Sicherheit und Bequemlichkeit aufgeben. Das gilt für China natürlich genauso wie bei uns im Westen.
Die digitalen Bezahlsysteme von Wechat oder Alipay mögen zwar im Einzelfall praktisch sein, erlauben aber auch eine lückenlose Überwachung aller Geldströme und machen uns zudem vollkommen abhängig von Banken und staatlichen Institutionen. Auch die omnipräsente Technologie der Gesichtserkennung ist eine zweischneidige Technologie mit hohem Missbrauchspotential, bei der wir uns genau überlegen müssen, wann und wie wir sie einsetzen sollen.
Bei der Lektüre drängt sich daher immer wieder die eine Frage auf: Wie gehen wir im Westen eigentlich mit ähnlichen Problemen um? Worin besteht der Unterschied, wenn China kritische Webseiten sperrt und wenn etwa die Schweiz ausländische Spielcasinos ohne Lizenz blockiert? Wieso ist Chinas Massenüberwachung verwerflich, wenn doch auch auf dem Berliner Südkreuz Kameras mit Gesichtserkennung eingesetzt werden? Was unterscheidet die Schufa vom Social Credit?
Und auch wenn es im Buch vordergründig um die durchaus bedrohliche Lage in China geht, schwingt unterschwellig immer auch die Frage mit, wie wir unsere Demokratien einrichten können, dass wir nicht jedem neuen Machthaber ein System in die Hand geben, das sich per Knopfdruck in eine Diktatur verwandeln lässt. Etwas, das nicht nur für China-Interessierte von grosser Bedeutung ist.
Für wen: Wer sich für die staatspolitischen Hintergründe in China interessiert und wer zu unseren eigenen freiheitlichen Demokratien Sorge tragen will, sollte sich dieses Buch unbedingt anschauen
(5/5 Sinograph-Punkte)
Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur – Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert. Piper Verlag, November 2018, 280 Seiten. Ca. 22 EUR
Tipp 2) Frank Sieren: Zukunft? China!
Auch im zweiten Werk, das ich heute vorstellen möchte, geht es darum, wie uns das immer mächtiger werdende China herausfordert und wie das Reich der Mitte versucht, auf Europa und den Rest der Welt Einfluss zu nehmen.
Dabei überschneidet sich Sierens Buch stellenweise stark mit dem von Strittmatter. Doch während Strittmatter vor allem die exzessive staatliche Überwachung ins Visier nimmt und daher ein entsprechend düsteres Zukunftsbild zeichnet, konzentriert sich der renommierte Wirtschaftsjournalist Sieren eher auf die ökonomischen Hintergründe.
Seine Kernbotschaft: China wird uns ein- und überholen. Schon alleine aus demographischen Gründen. Daran lässt sich nichts ändern. Die Frage ist nur, welche Stelle der Westen im anbrechenden „Jahrhundert der Gleichheit“ einnehmen wird. Und wie können wir verhindern, dass wir zu einer vergessenen Weltregion herabsteigen?
Ohne Anstrengungen, da ist sich Sieren sicher, werden wir diese Herausforderung nicht meistern. Vor allem sei es wichtig, dass wir unseren schleichenden technologischen Abstieg umgehend stoppen, indem wir beispielsweise stärker in die Forschung investieren. Denn bereits heute sei der wichtigste Grund, wieso China überhaupt noch mit Deutschland (und Europa) spricht, dass wir über das Know-how verfügen, das die Chinesen unbedingt wollen.
Im Grunde, schliesst Sieren auf der letzten Seite, müssen wir noch einmal von vorne anfangen: Kindern müssen wir mehr Erfindungsgeist einhauchen, die Industriepolitik müssen wir so strategisch ausrichten wie China dies tut und vor allem brauchen wir Politiker mit Weitsicht, die Europa wieder stärker einen. Ein Aufruf, den wohl jeder Leser unterstreichen kann.
Trotzdem hat mich bei der Lektüre der Unterton oft gestört. Dem Westen sei es nicht gelungen, schreibt der Autor an einer Stelle, Werte zu entwickeln, „die so überzeugend sind, dass die ganze Welt sie beachten muss“. Konzepte wie Menschenrechte sind für Sieren zwar richtig und wertvoll, doch werde künftig nicht mehr eine Minderheit der Weltbevölkerung in der Lage sein, den ethischen Diskurs zu bestimmen. Das mag zwar machtpolitisch korrekt sein, klingt aber stellenweise wie chinesische Staatspropaganda.
Einen Punkt Abzug erhält das sicherlich seriös recherchierte Buch allerdings nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern auch formalen: Der Autor hat dem Buch nämlich keine einzige Quellenangabe beigefügt.
Für wen: Wer sich für Geopolitik und wirtschaftliche Strategien interessiert, dem könnte dieses detaillierte und dennoch unterhaltsam geschriebene Buch gefallen.
(4/5 Sinograph-Punkte)
Frank Sieren: Zukunft? China! Wie die neue Supermacht unser Leben, unsere Politik, unsere Wirtschaft verändert. Penguin Verlag, Oktober 2018. 368 Seiten. Ca. 22 Euro.
Tipp 3.) Bettine Vriesekoop: Mulans Töchter
Wer als Tourist in China unterwegs ist, wird unabhängig vom eigenen Geschlecht mit grosser Wahrscheinlichkeit mehr Kontakt zu Frauen finden als zu Männern. Das hängt mit der Sprachbarriere zusammen: Frauen haben in China oft deutlich bessere Fremdsprachenkenntnisse als Männer.
Für Reisende heisst das, dass sie unterwegs immer wieder Geschichten von und über Frauen hören. Wem die Erzählungen von unterwegs nicht reichen, dem kann ich „Mulans Töchter“ der niederländischen Journalistin Bettine Vriesekoop empfehlen. Erst seit kurzem ist es auch in einer deutschen Übersetzung erhältlich.
Die Autorin trifft die unterschiedlichsten Frauen und unterhält sich mit ihnen über ihren Beruf und ihre Wünsche. Thematisiert wird aber auch die Einstellung zum eigenen Körper: Eine bekannte Schönheitschirurgin aus Peking erzählt ihr beispielweise, dass die Kunden in den letzten Jahren zunehmend ihre asiatischen Züge betonen möchten.
In einem anderen Kapitel zeichnet Vriesekoop ein Portrait einer ehemaligen Prostituierten, die heute als Leiterin einer NGO Arbeitsmigrantinnen aus der Prostitution hilft und sowohl von den heutigen Problemen erzählt wie auch zu jener Zeit, als sie noch dem horizontalen Gewerbe nachging. Zur Sprache kommen auch Frauenrechtlerinnen, Wissenschaftlerinnen oder Lesben. Eingerahmt werden die starken Portraits durch eine historische Einbettung.
Auch wenn der Text stellenweise etwas langatmig und mit Nebensächlichkeiten aufgebläht ist, gibt er doch einen hervorragenden Einblick in die Vielschichtigkeit der modernen chinesischen Alltagskultur und baut nach und nach die Vorurteile über asiatische Frauen ab, die im Westen noch immer in vielen Köpfen vorherrschen.
Für wen: Wer sich für die chinesische Alltagskultur, Frauenrechte oder auch einfach nur für interessante Portraits interessiert, wird hier bestimmt fündig.
Bettine Vriesekoop: Mulans Töchter, wie moderne Frauen das Gesicht Chinas verändern. Pirmoni Verlag, 2018, 220 Seiten, EUR: 16.90
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Vielen Dank für die Vorschläge. Ich bin gerade mitten im Buch „die Neuerfindung der Diktatur“. Es ist wirklich sehr interessant aber auch beängstigend zugleich. Wobei wir in Europa ja auch schon große Schritte in die Richtung unternommen haben und es anscheinend keinen stört. Ist ja alles nur im Kampf gegen den Terrorismus. Als Reisender in China frage ich mich allerdings in wie weit mich das einschränken wird. Ich habe kein Problem damit meine Unterkünfte vorher zu buchen und eine Route zu planen, denn das mache ich ohnehin meistens. Ich frage mich aber wie offen die Chinesen dann noch im Gespräch sind. Z.b. finde ich es sehr interessant mit den Menschen über ihren Alltag und das Leben im allgemeinen zu sprechen. Im Iran zb waren die Leute sehr offen und ich hatte sehr interessante Gespräche. Nur wie ist das in einem Überwachungsstaat wie China? Wenn ich mich mit jemandem in einem Cafe oder am Bahnhof unterhalten will dann sind überall Kameras und ich vermute auch Mikrophone bzw Programme die Lippen ablesen können. Reden Chinesen dann überhaupt noch offen?
Im Herbst plane ich mit meiner Freundin aus Japan in Peking Urlaub zu machen. Das könnte ich natürlich mit einer Rundreise verbinden. Jedoch vermute ich dass es eigentlich schon zu spät ist hinsichtlich der Themen Überwachung und Overtourism. Auf der anderen Seite wird sich die Situation in den nächsten Jahren wahrscheinlich noch zuspitzen, evtl sogar mit einem Einreiseverbot nach Tibet und Xinjiang.
Das Gefährlichste am Terrorismus ist, dass wir mehr und mehr unsere Freiheiten verraten. Das sehe ich auch so.
Inwiefern Überwachungskameras Gespräche aufzeichnen und systematisch auswerten, kann ich nicht so recht beurteilen. Ich vermute, dass das eher (noch) nicht funktioniert.
Ich denke nicht, dass Chinesen weniger offen reden. Wichtig ist für die staatliche Unterdrückung in erster Linie, dass sich Leute nicht organisieren können. Wenn sie Xi innig lieben, dann ist das sicherlich willkommen, aber solange sie die Macht nicht herausfordern, ist das eigentlich egal.