Alltagssinologie: Auf 300 Seiten erfährt der Leser fast alles über "den Chinesen". Foto: N. Zwahlen

Alltagssinologie: Auf 300 Seiten erfährt der Leser fast alles über „den Chinesen“. Foto: N. Zwahlen

Der Sinologe Jo Schwarz hat sich aufmacht, den „Chinesen an sich und im Allgemeinen“ zu suchen. Gefunden hat er ihn zwar nicht. Aber aus seiner Suche ist ein feines Buch entstanden, das nicht nur für China-Neulinge, sondern auch für Experten höchst lesenswert ist. Alltagssinologie vom Feinsten.

Jeder Peking-Besucher dürfte das Bild von Mao Zedong kennen, das vor der Verbotenen Stadt hängt. Von hier aus wacht der  „Grosse Vorsitzende“ mit strengem Blick über den Platz des Himmlischen Friedens und das Schicksal des ganzen Landes. Wieso das Gemälde überhaupt dort hängt, ist hingegen weniger bekannt: Das fast 25 Quadratmeter grosse und zwei Tonnen schwere Bild war kurz vor der Proklamation der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 angebracht worden.

Das Problem vor 65 Jahren war nämlich, dass die Zuschauer auf dem riesigen Platz ihren hochverehrten Revolutionsführer nur als kleinen Punkt in der Ferne sehen konnten. Mit dem Bild sollte Abhilfe geschaffen werden. Es erlaubte jedem, Mao zu sehen. Auch wenn selbstverständlich keine bewegten Bilder übertragen werden konnten, so war auf diese Weise doch ein Vorgänger unserer modernen Grossleinwand erfunden worden.

Diese Geschichte schildert der deutsche Sinologe Jo Schwarz in seinem kürzlich erschienen Buch „Der Chinese an sich und im Allgemeinen“. Der Verlag hatte mich vor einigen Wochen gefragt, ob er mir ein Exemplar zuschicken dürfte. Wenn mir das Buch gefalle, könne ich ja darüber berichten. Obwohl ich wegen des Titels anfänglich etwas skeptisch war, habe ich doch zugesagt.

Toller Inhalt, etwas bemühter Stil

Als ich das Buch aufschlug, gefiel es mir nicht sonderlich. Was mich störte, war der Schreibstil des Autors. Teilweise etwas blumig, teilweise etwas schwülstig trägt er seine Weisheiten vor. Dabei ist er ziemlich distanziert und leider auch oft etwas bemüht witzig. Insgesamt fand ich das Buch zu kopflastig. Hinzu kam, dass gleich im ersten Satz ein Wort fehlte – ab dem zweiten ist das Buch allerdings gut lektoriert.

Doch dann passierte etwas Überraschendes: je länger ich las, desto weniger störte mich der Stil. Im Gegenteil: Das Buch packte mich mit jeder Seite mehr. Das lag daran, dass der Autor weiss, wovon er schreibt, und dass er für die verschiedenenen Themen wirklich gut recherchierte. Obwohl ich selber mehrere Jahre in China gelebt habe, erfuhr ich einiges, was ich noch nicht wusste. Zu China werden sonst oft nur Plattitüden veröffentlicht.

Deswegen habe ich mich entschlossen, in dieser Rezension etwas zu tun, was ich sonst nicht tue: Ich verrate ein paar interessante Stellen aus dem Inhalt.

Wieso sich Chinesinnen nach der Geburt nicht waschen

Während meiner Jahre in China sind in meinem Umfeld auch einige Kinder zur Welt gekommen. Immer wieder habe ich von Freunden von den unglaublichen Bräuchen rund um das chinesische Wochenbett gehört. So hatte man mir erzählt, dass sich Frauen nach der Geburt einen Monat lang die Haare nicht waschen dürfen, weil sie sich während dieser Zeit besonders leicht erkälten.

Damals hatte ich das Gefühl, dass sich meine chinesischen Arbeitskollegen über mich lustig machen wollten und ging dem nicht weiter nach. Doch bei Schwarz fand ich diese traditionellen Regeln wieder und war erstaunt, dass sie sogar einen Schritt weitergehen als das, was man mir erzählt hatte. Nicht nur Haare waschen und Baden ist demnach den jungen Müttern verboten, sie dürfen sich auch nicht die Zähne putzen. Obst und Gemüse essen ist Tabu, dafür sollen sie im Monat nach der Niederkunft 40 Hühner verschlingen.

Schwarz erklärt dann auch gleich die Gründe, für die in heutiger Zeit absurd anmutenden Tabus: „Die damals schlechten sanitären Bedingungen haben leicht zu gefährlichen Infektionen geführt. Ein Bad zu nehmen, war das Risiko einfach nicht wert.“ Da inzwischen immer mehr Geburten in Krankenhäusern mit medizinisch ausgebildetem Personal erfolgen, findet zumindest dort die Tradition keine Anwendung mehr. Doch sobald die Frauen nach Hause kommen, gewinnt die Welt der Ammenmärchen wieder Oberhand. Interessant auch die Einschätzung des Autors, dass sich dieser Volksglaube wohl noch über Jahrzehnte wird halten können.

Spezialität: In Knaben-Urin gekochte Eier

Noch weniger appetitlich ist die Schilderung einer chinesischen Delikatesse namens Tong Zi Dan aus der Provinz Zhejiang. Übersetzen lässt sich das etwas aussergewöhnliche Gericht auch als „Kinder-Eier“. Das Besondere: Die Eier werden im Urin von jungfräulichen Knaben gekocht. Beliebt sind diese Eier, weil sie angeblich gegen Müdigkeit helfen und vor Hitzeschlägen schützen sollen – wobei diese Wirkung (wen wundert’s?) umstritten ist.

Mit unserem westlichen Hintergrund fällt es schwer zu glauben, dass jemand diese kulinarische Schandtat überhaupt probiert. In China aber seien die Tong Zi Dan recht beliebt, schreibt Schwarz. So beliebt sogar, dass Kindergartenschüler in einigen Schulen statt in das Urinal in eine spezielle Wanne pinkeln müssen. 2008 hat die Stadt Dongyang die Spezialität zum nationalen immateriellen Kulturerbe erklärt.

Fazit

Der Autor Jo Schwarz ist ein hervorragender Kenner Chinas und der chinesischen Kultur. Im vorliegenden Buch gelingt es ihm, Themen zu vermitteln, die sowohl für China-Anfänger wie auch für Experten interessant sind. Die kopflastige und distanzierte Art gefiel mir zwar nicht besonders, lässt sich aber angesichts des spannenden Inhalts gut verkraften. Daher eine unbedingte Kaufempfehlung von mir. Weitere tolle Bücher zu China empfehle ich in diesen Artikel.

Das Buch “Der Chinese an sich und im Allgemeinen“ von Jo Schwarz erschien im September 2014 im Conbook Verlag. Bestellt werden kann es für rund 10 Euro über Amazon.

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