Modernes Stadtviertel in Shenzhen. Fotos: O. Zwahlen

Modernes Stadtviertel in Shenzhen. Fotos: O. Zwahlen

Wir Reiseblogger berichten immer darüber, wie es ist aufzubrechen, neue Kulturen kennenzulernen und grossartige Erfahrungen zu sammeln. Heute möchte ich das Gegenteil machen und euch erzählen, wie es war, nach sechs Jahren China wieder in die Schweiz zurückzukehren und was sich in dieser Zeit in mir verändert hat.

Es war ein sonniger Nachmittag an einem der ersten Wochenenden, nachdem ich aus China zurückgekommen war. Ich traf mich mit zwei alten Klassenkameraden in einem Café, um meine Rückkehr zu feiern. Da die beiden in bester Schweizer Manier etwas früher angekommen waren als ich und sich bereits ein Getränk geholt hatten, ging ich alleine rein, um mir auch was zu bestellen.

Ich schritt also langsam in Richtung Theke und las dabei auf der dahinter hängenden Wandtafel die Getränkeauswahl durch. Ich sah im Augenwinkel, wie sich die Bedienung vor mich hinstellte und darauf wartete, die Bestellung aufzunehmen. Nach ein paar Sekunden senkte ich den Blick und sagte: „Ich hätte gern den hausgemachten Eistee.“

Ihre Reaktion hat mich zunächst überrascht, dann ganz kurz abgestossen und mich schliesslich zum Denken angeregt. „Guten Tag erstmal“, erwiderte sie. Nein, ein freundlicher Gruss war das nicht. Denn eigentlich sagte sie: Du Flegel hast keine Manieren und weisst nicht einmal, dass man hier in der Schweiz vor dem Bestellen zuerst „Grüezi“ sagt.

Bevor ich weiter über ihre Reaktion nachdenken konnte, stand der Eistee vor mir. „Das macht 4 Franken 90“, sagte sie. Ich klaubte mein Portemonnaie vor und rechnete kurz im Kopf um: Das sind über 30 Yuan, dachte ich. Dafür würde ich in China eine komplette Mahlzeit bekommen. Ich legte das Geld hin, nahm den Eistee und setzte mich zu meinen Freunden.

Markt in Xining in der Provinz Qinghai.

Markt in Xining in der Provinz Qinghai.

Wie hat sich also verändert?

Diese kleine Episode bedeutete eigentlich nicht viel. Die Frau hat mich und mein Versäumnis zu grüssen, bestimmt längst vergessen. Doch mir fiel die Geschichte immer wieder ein. Denn vor meiner Zeit in China – da bin ich mir ganz sicher – wäre mir dieser Fauxpas nicht widerfahren. Was hat sich also in mir verändert?

1. Ich ärgere mich (fast) nicht mehr über andere. Drängelt sich jemand in der Schlange vor, gehe ich davon aus, dass er es schon aus einem Grund eilig hat. Redet jemand laut am Handy, schalte ich den MP3-Player an.

2. Ich lernte es zu schätzen, andere nicht (so gut) zu verstehen. Denn trotz Punkt 1 neige ich dazu, mich für meine Mitbürger fremdzuschämen. Wenn ich zuhören muss, über welche doofen Themen andere diskutieren, vermisse ich die Zeit in einem Land, wo ich nicht alles so genau mitbekam.

3. Ich verstehe nun, wie man als Expat die Sprache nicht lernen kann. Früher habe ich mich über Ausländer gewundert, die in die Schweiz zogen und sich nicht um die Sprache bemühten. Doch wer weder am Arbeitsplatz noch mit seinen Freunden die lokale Sprache sprechen muss, braucht sehr viel Überwindung, sich nach Feierabend noch ein paar Stunden hinter die Bücher zu setzen. Das gelang mir auch nicht so oft, wie ich mir gewünscht hätte.

4. Ich finde es praktisch, im Pyjama rauszugehen. In den Hutongs von Peking sah ich vor allem morgens viele Leute im Schlafanzug, die sich etwas einkaufen. Bei uns ist das undenkbar. Immerhin: Für den Briefkasten ziehe ich mich auch hier nicht um.

5. Ich verstehe nicht, wieso man bei uns nicht rund um die Uhr einkaufen kann (und das erst noch mit dem Schutz der Angestellten begründet. Als Student hätte ich gerne ein paar Nächte in einem 7 Eleven gejobbt.) Konsum macht mich nicht glücklich. Aber manchmal habe ich nachts um ein Uhr Lust auf eine Schokolade oder ich stelle fest, dass ich vergessen hab, neue Zahnpaste zu kaufen. Früher hat mich das nicht gestört.

Der Autor in einem Café in Guilin.

Der Autor in einem Café in Guilin.

6. Apropos Einkaufen: Ich rechne alles in Yuan um. Wenn ich in Restaurants gehe oder etwas einkaufe, überlege ich mir, wieviel das wohl in China gekostet hätte. Und bin fortlaufend schockiert, wie teuer alles in der Schweiz ist. Alles, was nicht dringend ist, kaufe ich mir erst auf der nächsten Reise.

7. Ich empfinde Schweizer Städte als leer. Ich weiss, viele meiner Landsleute reden von Dichtestress und wollen möglichst niemanden mehr reinlassen, weil sie die Schweiz jetzt schon jetzt so furchtbar überbevölkert finden. Aber vor allem abends, wenn in den Strassen weit und breit niemand mehr zu sehen ist, fühle ich mich manchmal etwas unwohl und hätte gerne mehr Menschen um mich.

8. Ich weiss nicht, wie man in der Schweiz neue Menschen kennenlernt, wenn man von zu Hause arbeitet und in keinem Verein organisiert ist. In China ist es einfach: Man geht in den Starbucks und schon ist man mit dem Tischnachbarn im Gespräch. Wie frustrierend das für Menschen sein muss, die nicht hier aufgewachsen sind, konnte ich früher nie verstehen.

9. In der Schweiz ist gibt es keinen richtigen Fastfood. Ich koche nicht gerne (und esse es dann auch nicht gerne) und würde den kleinen Hunger gerne mit Fastfood stillen. Doch ausser einem Sandwich/Burger und vielleicht einem Salat gibt es fast keine Auswahl. Kleine Grillbuden und Stände mit gebratenem Reis, meinem geliebten Stinktofu oder Nudelgerichten sucht man vergeblich.

10. Erst in China merkte ich, wie technologisch rückständig wir hier sind. Der grössere Teil meiner Schweizer Bekannte und Freunde ist nicht in sozialen Medien aktiv. Manche haben nicht einmal ein Smartphone.

Blogparade

Zu diesem Beitrag wurde ich animiert durch die Blogparade, die Ariane derzeit auf ihrem Blog Heldenwetter veranstaltet. Willst du mehr über das Heimkehren und den reversen Kulturschock erfahren, dann empfehle ich dir, hier die anderen Beiträge zu lesen.

Übrigens, wenn du nun denkst, dass ich ganz einfach Fernweh nach China habe, dann solltest du hier lesen, wieso genau das nicht der Fall ist.

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20 Kommentare

  1. Hey, freut mich sehr, dass du mitgemacht hast! (Ich würde ja auch gern drüber schreiben, aber ich kann ja noch nicht – war ja noch nie zurück in der Heimat …)

    Wenn ich deine Punkte so lese, muss ich dir aber schon in vielem zustimmen, auch wenn ich bisher keinen heimischen Boden mehr betreten habe. Ich habe mich wohl ähnlich verändert. Bei deinem Beispiel mit der Eistee-Bestellung habe ich mich ja erst gewundert, wo das Problem ist. Bis du dann das „Guten Tag erst mal“ gebracht hast 😉

    Nur Punkt 2 schließe ich mich nicht ganz an. Ich habe jedes noch so dämliche Gespräch in der Bahn gern gehört, war manchmal sehr erheiternd. In China finde ich es dagegen oft schade, dass ich niemanden so richtig belauschen kann 😉

    Und zum Schlafanzug: Damit gehe ich auch heute noch nicht vor die Tür – in Jogginghose mal schnell zum Supermarkt schon oder fürs Spazierengehen am Abend in FlipFlops. In Deutschland wär das undenkbar gewesen …

    1. Na siehst du! Da hast du auch schon chinesische Manieren… 🙂

      Wie seltsam die Schweizer (und vermutlich auch die Deutschen) mit diesem ganzen Wer-grüsst-wen-Zeugs eigentlich drauf sind, ist mir erst aufgefallen, nachdem ich zurückkam. Du darfst dich also auf eine Augen öffnende Erfahrung gefasst machen…

      1. Dass ich chinesische Manieren hab, merke ich ja sogar schon manchmal in China, wenn ich mit anderen Deutschen unterwegs bin 😉

        Haha, da gibt es bestimmt noch viele seltsame Dinge bei den Schweizern/Deutschen zu entdecken. Letztens hat mich eine Chinesin gefragt, warum Deutsche ihr Ei eigentlich immer mit Löffel und Eierbecher essen. Über so was denkt man als Deutscher ja gar nie nach, kann aber wohl seltsam wirken …

  2. Nunja, viele meiner älteren chinesischen Bekannten haben keinen Internetzugang und Schwierigkeiten, überhaupt einen Anruf mit dem Smartphone zu tätigen. Studienabgänger in China können sogar oft nicht mal rudimentäre Programme schreiben… In der Schweiz können das inzwischen alle, die etwas das entfernt mit Zahlen zu tun hat, studieren. Daher sehe ich China nicht gerade als technisch fortschrittlich…

    1. Ich kann keine Programmiersprache und ich kenne auch so gut niemanden, der eine kann. Weder hier noch in China. Da bewegen wir beide uns wohl in ziemlich unterschiedlichen Kreisen… 🙂

  3. zu 5.:
    Erster Sonntag zurück in Bayern:
    „Wie jetzt, alle Geschäfte haben zu?“

    passiert mir zuverlässig jedes Mal, weil es einfach so unglaublich ist.

  4. Toller Artikel! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sein mag, nach sechs Jahren Ausland wieder zurückzukommen… Für mich war das Jahr Peru ja sozusagen einfach eine Unterbrechung, bei der ich wusste, dass ich nach dem Jahr zurück nach Deutschland kommen würde, aber nach sechs Jahren muss es ja wirklich wieder eine komplette Umstellung sein. Hut ab!

    In Punkt 5 hab ich mich absolut wiedererkannt 😀 In Lima haben die meisten Menschen eine Sechs-Tage-Arbeitswoche und entsprechend ist der Sonntag DER Einkaufstag. In Supermärkten und Einkaufszentren gibt es dann fette Probier-Aktionen oder Aktionen für Kinder, es ist unglaublich voll und alle kaufen sich mittags im Supermarkt Grillhähnchen mit Pommes 😉 Kam mir sehr komisch vor, dass auf einmal sonntags wieder überall geschlossen war! Auch #8 hab ich im Ausland kennen gelernt. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass man selbst als Ausländer überall interessiert aufgenommen und angequatscht wird?

    Und das mit dem im Schlafanzug rausgehen ist ja phänomenal! Das sollte man hier definitiv auch einführen bzw. gesellschaftsfähig machen 🙂 Vor allem für mich als Studentin, die viel Zeit im „Home Office“ verbringt, wäre das grandios!

    Danke für die Teilnahme an meiner Blogparade, ich hab mich sehr gefreut!

  5. Oh das kann ich sehr gut verstehen! Spanien ist zwar nicht China, aber auch hier ist Vieles einfach ganz anders als „daheim“. Nach über 15 Jahren hier habe ich bei meinen Besuchen in Deutschland auch ganz oft solche kleinen Erlebnisse, wie Du sie beschreibst 🙂 sehr netter Artikel!

    Liebe Grüße!!
    Nicole

  6. Hallo Oliver,
    schöner Artikel und ich kann lediglich Eindrücke von meinen „Kurzbesuchen“ in China wiedergeben. Ich muss lächeln, wenn hier jemand sagt, dass die U-/S-Bahn voll war. Ist aus meiner Sicht dann nur halb voll, wenn ich dies mit Beijing vergleiche. Wo ich mich hier zurückhalten muss, ist das Drängeln. Es wird ja in Beijing nicht mehr so gedrängelt wie früher, doch da kann ich schon etwas mithalten (besser als meine Frau aber nicht so gut wie Schwiegermutter).
    Was in China wirklich ein Vorteil ist, sind die Öffnungszeiten und natürlich wie du es auch vermisst, die kleinen Imbisse.
    Lg Thomas

  7. Ich habe zwar noch nicht alle Artikel gelesen, aber das hier ist bis jetzt mein Liebster. Ich hab mich in so so vielen Punkten wieder erkannt 🙂

    1. Vielen Dank, Kia… 🙂

      Die anderen Beiträge sind viel weniger persönlich. Meistens versuche ich, meinen Lesern spannende Orte in China vorzustellen oder ihnen bei der Reisevorbereitung zu helfen.

      Gruss,
      Oli

  8. Hallo Oliver,

    ich bin auch erst seit ein paar Monaten zurück in Deutschland, nachdem ich ein halbes Jahr in China unterrichtet hatte. Jetzt habe ich wieder ein wenig Fernweh und habe mich in so vielen der Aspekte wiedererkannt! Besonders, dass die Geschäfte hier nie aufzuhaben scheinen und alles so still und langweilig leer ist, fällt mir besonders auf. Ein richtig guter Artikel!

    LG Laura

    1. Vielen Dank fürs Feedback, Laura. Darf ich dich einmal wegen deiner Unterrichtserfahrungen in China kontaktieren?

      1. Hallo Oliver,
        Entschuldigung, dass ich erst so spät antworte, aber natürlich kannst du das machen :). Freue mich von dir zu hören!

  9. Moin!
    Ein toller Artikel- ich hab mich zum Teil wiedererkannt. Letztes Jahr war ich für drei Monate in China- danach im Anschluss für einen Monat in Bangkok. Es war eine recht anstrengende Geschäftsreise- vollgepackt mit vielen Aufgaben und Herausforderungen. Gefühlt war ich 26 Stunden am Tag für meinen Arbeitgeber da- und hatte dort auch einiges an Handlungsspielraum.
    Mein Schock zuhause war dann: wieder zurück in den alten, gewohnten Job zu gehen. Zwar auch interessant und vielfältig- aber eben kein Vergleich zur Tätigkeit im Ausland. Mir kam es so vor, als ob ich in China der große Zampano war- und zuhause nur ein kleines Rädchen im Gefüge. Ist jetzt natürlich überspitzt dargestellt 😉

    Naja- was soll ich sagen… ich habe jetzt ein Angebot aus unserer Niederlassung in Hong Kong- und gehe in zwei Monaten für voraussichtlich zwei Jahre dort arbeiten.
    Ich war dort in den vergangenen Jahren schon mehrfach mal für drei Monate- aber jetzt wird es dann zum ersten Mal richtig meine Heimat.

    1. Wow, das klingt ja toll. Ich wünsch dir eine grossartige Zeit in Kongkong. Ich finde die Stadt ja der absolute Hammer! 🙂

  10. Merci!
    Hong Kong ist meine Lieblingsstadt. Alleine schon wegen MTR und Octopus-Card… da sind uns die Chinesen echt voraus.

    1. Nunja, in Hongkong ist es auch relativ einfach, ein gutes U-Bahnnetz zu errichten. Dafür sorgen die hohe Besiedlungsdichte und die klaren Zentren. Wir haben in Europa ja keine Stadt mit einer vergleichbaren Struktur, allenfalls noch Istanbul.

      Mit der Ausnahme von Hongkong bin ich jedoch kein grosser Freund der chinesischen U-Bahnsysteme: Die Linienführung ist in der Regel vollkommen idotisch, besonders in Peking. Je nach Route musst du bis zu 5 Mal (!) umsteigen. Manche Linien sind so dumm verknüpft, dass laufen deutlich schneller ist.

      Ausserdem habe ich China immer das Gefühl, dass die Passagiere nicht als Menschen wahrgenommen werden, sondern wie Rinder oder andere Herdentiere. Eingepfercht in Laufgitter wird man von irgendwelchen Aufpassern mit dem Megafon angeschrien. Dabei hat man bei Bau gewusst, wieviele Leute die U-Bahn nehmen wollen. In New York geht es ja auch etwas freiheitlicher.

  11. …ich bin (leider) ausserhalb von Hong Kong noch mit keiner chinesischen U-Bahn gefahren. Aber wenn ich deine Eindrücke so lese, dann bedauere ich das jetzt auch mal nicht.
    Was mir persönlich in Hong Kong auch noch richtig gut gefällt: Die alte Tram! Wenn man es nicht eilig hat, kann man die prima zum Sightseeing nutzen. Essen und trinken ist da zwar auch verboten- ich hab mich aber schon mal am Wochenende mit ein paar Bier (versteckt im Rucksack) dort reingesetzt (nach oben- direkt nach vorn) und bin über die Insel getuckert. Dann irgendwo aussteigen- Menschen beobachten… und einfach wieder mit der Tram in die entgegengesetzte Richtung.

    1. Ja, diese Doppeldeckertrams sind weltweit vermutlich einzigartig. Ich finde die auch recht cool.

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